Wie werde ich selbstbewusster? Und ist Selbstbewusstsein überhaupt erlernbar? Ja, sicher. Aber welches Selbstbewusstsein will ich lernen? Das des Narzissten? Das Selbstbewusstsein eines Eingebildeten, einer Dreisten, eines Frechen oder das der Überheblichen?
Muss Selbstbewusstsein verdient werden?
Ich kenne Menschen, die sehr viel geleistet und geschafft haben in Ihrem Leben und sehr schüchtern und trotzdem unsicher sind. Und ich kenne Menschen, die vor Selbstbewusstsein bersten, obwohl sie (noch) nicht viel erreicht haben. Klar, dass uns Misserfolge verunsichern. Aber verändern sie schon unser Selbstbewusstsein? Über Ursachen und Zusammenhänge kann man viel nachdenken und reden. Ich möchte da beginnen, wo sich Selbstbewusstsein am Ende immer äußert: Im Kontakt mit anderen.
Sind alle Formen von Selbstbewusstsein erstrebenswert?
Was bringt es mir, wenn ich selbstbewusster bin, aber keine Freundschaften mehr habe? Wenn mich das Selbstbewusstsein Sympathie kostet? Und diese Formen gibt es durchaus:
- Einbildung. Wenn ich meinen Selbstwert auf Fähigkeiten oder Erfolgen baue, die ich übermässig erhöhe.
- Arroganz. Wenn mein Selbstwert auf einem „Ich-bin-besser-als-die-Anderen“ aufbaut. Folge ist Überheblichkeit und Arroganz
- Dreistigkeit. Mir steht es zu, dass ich mich vordrängeln darf. Hoppla – hier bin ich. Platz da. Die „Space-Taker“ dieser Welt. Nicht alles, was nach Selbstbewusstsein aussieht, ist es auch. „Unverschämtheit ist den Schwachen Imitation von Stärke“ (unbekannte Quelle).
Ich kann mir kein gesundes Selbstbewusstsein vorstellen, das auf ein „Besser-Sein-Als“ aufbaut.
Wie kann ich Selbstwertgefühl üben?
Die einfachste Technik, unser Selbst, unsere Gefühle, unseren Zustand zu beeinflussen, ist: „Tu so als ob“. Warum funktioniert das?
Das erste Prinzip: Muskeln, die wir öfter beanspruchen, werden stärker. Das, was wir öfter essen, mögen wir auch irgendwann mehr. So können wir uns selbst beibringen, glücklicher, zufriedener oder auch selbstbewusster zu sein.
Das zweite Prinzip ist, dass zwischen innerem Zustand und Körper keine Einbahnstraße besteht, sondern beide Richtungen befahrbar sind. Die Körperhaltung hat Einfluss auf den inneren Zustand.
Das Übungsfeld. Welche Gelegenheiten hast Du?
Wo oder besser mit wem kann ich das üben? Gelegenheiten gibt es wirklich genug: Welche festen Begegnungen hast Du? Mit wem musst Du automatisch (Augen-) Kontakt aufnehmen?
- Beim Einkaufen im Supermarkt, Baumarkt, Tankstellen und Co: An der Kasse, die Frage, wo was zu finden ist.
- Beim Arbeiten: Kunden, Kollegenkreis etc.
- Bei Ämtern, Ärzten und anderen Erledigungen
Ich habe nicht so gute Erfahrungen gemacht, die zufälligen Begegnungen mit fremden Menschen auf der Straße oder in der Fußgängerzone als Übungsfeld zu nutzen.
1. Programmiere Dich auf die möglichen Begegnungen
Spiele gedanklich durch, an welchen Orten Du sicher Menschen begegnen wirst. In welchen Geschäften gehst Du einkaufen (Kassierer, Beraterinnen)? Welche Termine hast Du in den nächsten Tagen? Wem begegnest Du da? Auf 5 bis 10 Kontakt-Orte bist Du bestimmt schnell gekommen. Oder? Suche Dir einen der Kontakte aus. Am einfachsten zum Einüben für den Anfang sind Begegnungen auf Augenhöhe, wenn beide stehen oder beide sitzen.
2. Dem Gehirn ist es egal, ob es in der Vorstellung oder in der Realität passiert
Die nächste gute Nachricht. Zum Üben brauchst Du nicht bis zum nächsten realen Kontakt warten. Die zentralen Lernschritte kannst Du hier und jetzt und sofort auslösen. Denn dem Gehirn ist es egal, ob Du Dir nur etwas vorstellst oder ob Du es real machst. Es sind die gleichen Synapsen, die aktiviert werden. Kein Unterschied. Die Realität ist jedoch notwendig für das „Tracking“, also das Feedback darüber, ob Du wirklich selbstbewusster geworden bist.
3. Was genau bedeutet für Dich selbstbewusst sein? Der 100 % Zustand
Wie lange soll Dein Trainingsprogramm dauern? Eine Woche, einen Monat, etwas dazwischen? Was wäre Dein Erfüllt-Zustand, Dein 100%-Zustand? Damit hast Du auch eine Skala, mit der Du Deinen gefühlten Fortschritt festmachen kannst. Jetzt tu mal so, als ob Du die 100 % Selbstbewusstsein erfüllst. Wahrscheinlich sitzt Du gerade mit einem Bildschirm in der Hand oder auf dem Schoss:
Wie fühlt sich das an, in perfektem Ausmaß und Art selbstbewusst zu sein? Wie fühlen sich Deine Schultern an? Vielleicht entspannter? Wie atmest Du? Wie ist Deine Kopfhaltung? Was machen die Muskeln um Deinen Mund herum? Und um Deine Augen herum? Wie genau sitzt Du als selbstbewusster Mensch? Musst Du Dich jetzt etwa anders hinsetzen? Was denkst Du über Dich, über die anderen, über die Welt? Und wie fühlt sich das an? Wenn es Dir gefällt, mache das Gefühl noch stärker! Bis es perfekt ist.
Ah – ha. Du kannst es also – Dich selbstbewusst fühlen. Wenn Du es einmal kannst, kannst Du es immer wieder fühlen, so oft und so intensiv wie Du möchtest!
4. Was genau bedeutet für Dich, selbstbewusst Kontakt aufnehmen?
Jetzt kannst Du gleich weitermachen. Wie geht jemand, der selbstbewusst ist, wie bewegt sich diese Person? Wie geht sie auf jemanden zu? Es sind im Grunde nur 3 bis 10 Sekunden, die den Kontakt entscheiden. Mit welcher Stimme sprichst Du jemanden an? Und vor allem wie schaust Du den anderen an. Weder devot noch unsicher, unterwürfig aber auch nicht überheblich, eitel oder arrogant. Wie kann Dein Blick fest, ruhig und sicher sein ohne zu stieren oder aggressiv zu wirken. Es begegnen sich zwei erwachsene, starke Menschen auf Augenhöhe.
Es gibt einen Klassiker der Kommunikation und Persönlichkeit von Thomas A. Harris, in dem es um nichts anderes geht. Der Titel „Ich bin o.k., Du bist o.k“ (Buch auf Amazon.de bestellen). Erschienen vor 45 Jahren, erhältlich in der 54 (!) Auflage.
Auch wenn es fast genügt, sich wie ein Regisseur den persönlichen Kontaktfilm immer besser zu machen, spricht nichts dagegen, den Film auch in der Realität ablaufen zu lassen. Es geht dabei nicht darum, wie die anderen reagieren (mach Dich nicht abhängig von den Zuständen der anderen), sondern nur darum, ob Du Dich mit Dir selbstbewusst gefühlt hast.
5. Belohne Dich selbst. Checke z.B. wöchentlich Deinen Entwicklungsstand auf einer 100% – Skala
Falls Du mit einer Termin- oder Aufgaben-App arbeitest, kannst Du dir einen wöchentlichen Check-Termin eintragen. Nimm eine Zeit, zu der Du mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Zeit hast, über den Stand Deines Selbstbewusstseins nachzudenken. Denn ich kann nur schwerlich selbstbewusster werden, wenn ich nicht überprüfe, ob ich auf dem richtigen Weg bin.
Arbeitshypothese: Selbstbewusstsein ist Augenkontakt auf Augenhöhe
Selbstbewusstsein entscheidet sich im Kontakt zu anderen. Es entscheidet sich in der Art, wie Du einen anderen Menschen anschaust. Darum ist Selbstbewusstseins-Training letztendlich immer Training an der Art und Weise, wie sich mit anderen der Augenkontakt entwickelt.
Du bist Deinem angestrebten Selbstbewusstsein näher gekommen? Sehr gut! Aber wie steht es mit Deinem persönlichen Glück? Glücklich werden – Glück ist eine Frage der Perspektive.
© Grannemanns Workbook