Die Menschen vernetzen sich zu etwas Neuem und schaffen fortlaufend neue Systeme. So wie sich Milliarden von Neuronen in unserem Gehirn zu unserem Bewusstsein vernetzt haben. Dieser Systemsprung bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die Einzelelemente des Systems selbst. Nämlich auf uns. Was genau es mit dem Systemsprung der Menschheit auf sich hat, liest Du in Teil 1 (Das Ausmaß der Veränderung) und Teil 2 (Der Systemsprung und seine Auswirkung) dieser Artikelserie.
Das neue Nervensystem der Menschheit
- Facebook, Google und Co. bestimmen einen hohen Anteil, nach welchen Regeln das neue neuronale Netzwerk funktioniert. Die Algorithmen sagen die Zukunft voraus, indem sie Daten der Vergangenheit fortschreiben. Das führt zu einer Verfestigung der Vergangenheit (Regeln der Kreditvergabe: Bestimmte Gruppen sind nicht solvent. Wozu führt dieser Algorithmus? Dass genau diese Gruppen insolvent bleiben). Es wird schwieriger, die angestammte soziale Gruppe zu verlassen.
- Die Algorithmen führen uns zu den Menschen, die die gleiche Meinung vertreten. Diese Echokammern führen zu Scheinwelten und Radikalisierungen. „Die ganze (Internet-) Welt glaubt das gleiche wie ich“. Damit zerfällt die gemeinsame Grundlage der Gemeinschaft. Es werden zunehmend die gemeinsamen Fundamente unserer Gesellschaft in Frage gestellt: Die Wissenschaft, die Demokratie, die Sprache.
- Innerhalb der Teilgruppen steigt der Konformitätsdruck. Um die Anerkennung meiner sozialen Gruppe zu erhalten, sind wir bereit, die eigenen Urteile an die Urteile der Gruppe anzupassen. Solomon Asch konnte das in den 1950er Jahren eindrucksvoll in einem Experiment zeigen, in dem Strichlängen beurteilt werden mussten. Dabei passten viele ihre vorher allein getroffenen richtigen Urteile an die falschen Urteile der anderen eingeweihten Versuchsteilnehmer an. Wir scheinen zunehmend unsere Dialogfähigkeit zu verlieren. Meinungen werden immer weniger in Frage gestellt.
Was sind die Konsequenzen der neuen Systeme?
Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. In Technogenese und Soziogenese gibt es viel zu tun.
Auf der Technogenese-Seite brauchen wir Entwicklungen, Innovationen, Fortschritte, die eine Dezentralisierung erlauben. Z.B. weg von den Abhängigkeiten von großen Energieformen (Kohle, Atom), hin zu kleinen Einheiten wie Solar und Miniwindräder auf den den Dächern. Weg von den Regeln, sprich Algorithmen, der großen digitalen Unternehmen.
Auf der Soziogenese-Seite brauchen wir wohl eine Stabilisierung unserer sozialen Systeme. Dabei möchte ich persönlich nicht in der Stabilität einer russischen oder chinesischen „Demokratie“ leben. Aber wie kommen wir zu Entscheidungen, die von allen mitgetragen werden? Und nicht überall laufen Machtwechsel so friedlich, wie bei uns. Wie wichtig die Soziogenese ist, kann man sehr eindrucksvoll an den sogenannten „failed States“ (45 Morde pro 100.000 Einwohner und Jahr in Venezuela – bei uns sind es 0,8; so gut wie kein Gesundheitssystem in Nigeria u.v.m. Die Techniken für die Digitalisierung sind da, aber die Entscheidungsprozesse bei uns scheinen den Ausbau zu verhindern).
Was heißt das für unsere persönliche Psychogenese?
- Sich ständig in Frage stellen. Ständig Abschied nehmen von Gewohnheiten, Erwartungen, alten Zielen und Selbstverständlichkeiten.
- Suche den Andersdenkenden und suche den Dialog, um möglichst gut zu verstehen, wie die Welt aus der Sicht des anderen aussieht. Der andere sieht etwas, was Du nicht siehst, und umgekehrt. Und wenn beide die gleichen Argumente sehen, haben sie doch unterschiedliche Gewichte.
- Wir suchen immer die Menschen, die uns ähneln, der gleichen Meinung sind. Die gibt es aber nicht (mehr). Suche nicht die Menschen mit der gleichen Meinung. Suche die Menschen, mit denen Du reden kannst und die Dich nicht für Deine Meinung verachten.
© Grannemanns Workbook